
Tiago Tavares Tattoo

Vertrauen und Verantwortung
Die meisten Menschen glauben, sie kämen, um ein Motiv auszuwählen. In Wirklichkeit wählen sie jemanden aus, der die Verantwortung für etwas übernimmt, das ein Leben lang auf ihrem Körper bleiben wird. Eine Tätowierung ist ein Vertrauensakt. Und Vertrauen verlangt Klarheit: Technik, Erzählung und Ethik.
Jede Person bringt eine erste Vorstellung mit. Manchmal präzise, manchmal vage, manchmal eher Wunsch als Konzept. Meine Aufgabe ist es, diese Absicht in etwas zu übersetzen, das auf Haut funktioniert und die Zeit übersteht. In diesem Übergang — von „Ich möchte dieses Bild“ zu „So verhält sich Haut im Laufe der Jahre“ — beginnt die eigentliche Arbeit.
Was Haut erlaubt und Zeit verändert
Bevor wir über Zeichnungen sprechen, frage ich, was die Person ausdrücken möchte. Kraft, Zartheit, Eleganz, Provokation oder einfach Schönheit ohne Botschaft. Daraus ergibt sich alles Weitere. Danach folgen Platzierung, Größe und Technik. Hier lösen sich viele Illusionen auf. Zartheit wird oft mit Kleinheit verwechselt, obwohl gerade die kleinsten Motive am schnellsten zerfallen. Pigmente breiten sich aus, die Haut verändert sich, und Details verschwinden.
Ich nenne gerne ein Beispiel: das winzige Motiv, das Baum, Blumen, Vögel, Sonnenuntergang, Worte, Kolibri, Pusteblume, Frauengesicht, Rose und Musiknoten vereinen soll. Auf Papier wirkt es poetisch. Auf Haut erinnert es nach wenigen Sommern an einen Motorradunfall. Direkt gesagt, aber wahr — und die meisten verstehen sofort. Humor hilft.
Technik, Konzept und lebende Oberfläche
Mein Prozess richtet sich nach dem Projekt. Ich zeichne im Kopf, auf Papier, am Tablet oder direkt auf der Haut. Manchmal nutze ich 3D-Software, um Bewegungen zu testen. Das Werkzeug ist austauschbar, der Körper nicht. Ob etwas funktioniert, zeigt sich erst, wenn sich die Person damit bewegt. Eine Tätowierung ist ein lebendes Werk. Sie existiert in Bewegung, nicht im Stillstand einer Fotografie.
Drei technische Säulen leiten meine Arbeit: Textur, Kontrast und Anwendung. Und drei konzeptuelle: Lebendigkeit, Erzählung und Respekt. Manche nennen es Stil; für mich ist es eine Art, Bilder zu denken. Malerei, Fotografie und Journalismus prägen mich seit der Kindheit.
Mit den Jahren habe ich gelernt, dass Menschen unterschätzen, wie gut sie sich mit einer gelungenen Tätowierung fühlen werden. Sie erwarten Zufriedenheit und gehen gestärkt. Ich habe auch gelernt, dass Tätowierungen Erinnerungen, Anwesenheit, Heilung oder reinen Wunsch ausdrücken können. Alles legitim.
Grenzen, Haltung und Alltag im Studio
Es gibt Grenzen. Ich tätowiere keine rassistischen, faschistischen oder homophoben Symbole. Keine Minderjährigen. Keine leeren Muster, die Tiefe vortäuschen. Und ich setze keine erste Tätowierung ins Gesicht, an den Hals oder auf die Hände — nicht aus Moral, sondern aus Verantwortung.
Wer auf einer schlechten Idee besteht, bekommt eine Erklärung. Ich zeichne, zeige, diskutiere. Die Entscheidung liegt am Ende beim Kunden, aber ich setze nichts um, von dem ich weiß, dass es scheitern wird. Viele Erwachsene hören selten ein „Nein“. Es gehört zu meinem Beruf, es auszusprechen.
Studios unterscheiden sich, die Routine nicht: Vorbereitung, Sterilität, Konzentration, Musik wenn nötig, Kaffee wenn möglich. Die Technik ist moderner geworden. Maschinen leichter. Nadeln sicherer. Der Kern bleibt: beobachten, denken, entscheiden und anwenden.
Tätowierer zu sein bedeutet Verpflichtung. Wenn mich jemand auswählt, empfinde ich Ehre. Wenn ich arbeite, erwidere ich diese Wahl mit Verantwortung. Mein Leben besteht aus Bildern. Tätowieren ist nur ihre unmittelbarste und dauerhafteste Form.
Wenn ich etwas ändern könnte, wäre es der Weg ins Studio. An manchen Tagen wünsche ich mir Teleportation. Bis dahin gehe ich weiter.
Und tätowiere.
